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Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten aus einem Alleinvertriebsvertrag in Belgien

Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten aus einem Alleinvertriebsvertrag in Belgien

Urteil vom 7. April 2023, Kassationsgerichtshof, Belgien - zum Artikel

 

  1. Eine Streitigkeit über die Beendigung eines Alleinvertriebsvertrages für das gesamte belgische Staatsgebiet ist eine Streitigkeit vermögensrechtlicher Art und somit grundsätzlich schiedsfähig.
  2. Im Anwendungsbereich der Rom-I-Verordnung[1] darf das belgische Gericht die von den Parteien getroffene Rechtswahl zugunsten ausländischen Rechts ungeachtet von Art. X.39 WGB nicht außer Kraft setzen, da es sich bei den belgischen Regelungen zum Alleinvertriebsrecht nicht um zwingende Vorschriften (‚loi de police‘) i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung handelt.
  3. Infolgedessen darf die Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit nicht davon abhängig gemacht werden, ob der Schiedsrichter belgisches Recht oder ein diesem vergleichbares Recht anwendet.

Am 7. April 2023 verkündete der belgische Kassationshof ein bedeutsames Urteil,[2] dem eine Streitigkeit über die Zuständigkeit für Ansprüche aus der Beendigung eines unbefristeten Alleinvertriebsvertrags zugrunde lag. Dieses Urteil markiert die Abkehr von dem bisher in der höchstrichterlichen Rechtsprechung herrschenden Tandem-Ansatz[3] hinsichtlich der Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten über Alleinvertriebsverträge.

 

I. Alleinvertriebsrecht in Belgien

Im Falle einer einseitigen Beendigung eines unbefristeten Alleinvertriebsvertrags mit Wirkung für das gesamte belgische Hoheitsgebiet oder für einen Teil davon, sieht das belgische Recht zum Schutz des Konzessionärs die Einhaltung einer angemessenen Kündigungsfrist sowie die Zahlung einer Entschädigung vor.[4] Diese Ansprüche kann der Vertragshändler in Belgien vor dem Gericht seines Wohnsitzes oder vor dem des Wohnsitzes seines Lieferanten geltend machen, wobei das belgische Gericht verpflichtet ist, belgisches Recht anzuwenden.[5] Ursprünglich waren diese Ansprüche in einem eigenen Gesetz, dem Alleinvertriebsgesetz (AVG) vom 27.7.1961, geregelt. Gemäß Artikel 6 dieses Gesetzes hatten die Bestimmungen des AVG Vorrang vor anderslautenden, vor Beendigung des Alleinvertriebsvertrags getroffenen Vereinbarungen,[6] wodurch dem AVG zwingende Wirkung zukam. Dies hatte zur Folge, dass die Vereinbarung einer Schiedsklausel in einem belgisch-internationalem Alleinvertriebsvertrag nur unter Ausschluss von Streitigkeiten über die Beendigung des Alleinvertriebsvertrages möglich zu sein schien, da in diesem Fall der Anwendungsbereich des AVG nicht eröffnet war,[7] oder dass die Schiedsklausel nach Vertragsbeendigung von den Parteien erneut bestätigt werden musste.

Im Jahr 2014 wurden die Regelungen des AVG in das belgische Wirtschaftsgesetzbuch (WGB) aufgenommen, wobei jedoch der für den zwingenden Charakter des AVG verantwortliche Artikel 6 nicht übernommen wurde. Infolgedessen herrschte Unklarheit und Rechtsunsicherheit hinsichtlich des zwingenden Charakters der belgischen Regelungen zum Alleinvertriebsrecht: Während Teile der belgischen Rechtslehre aus der fehlenden Übernahme des Artikel 6 AVG in das WGB schlussfolgerten, dass der Gesetzgeber den zwingenden Charakter des Alleinvertriebsrechts aufheben wollte,[8] sahen andere die Anwendung der belgischen Regelungen weiterhin als zwingend an.[9]

 

II. Bisherige Rechtsprechung in Belgien

In seinem ersten Urteil zur Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit über die Beendigung eines belgisch-internationalen Alleinvertriebsvertrags sprach der belgische Kassationsgerichtshof im Jahr 1979 aus, dass eine Streitigkeit nicht schiedsfähig ist, wenn die Schiedsklausel vor Beendigung des Vertragshändlervertrags mit Alleinvertriebsrecht vereinbart wurde und diese die Anwendung eines ausländischen Rechts bezweckt und bewirkt.[10] Hieraus ergab sich im Umkehrschluss, dass eine Streitigkeit schiedsfähig ist, wenn die Schiedsrichter zur Anwendung des belgischen Alleinvertriebsrechts verpflichtet sind.[11] Die Frage nach welchem Recht die Beurteilung einer Schiedsklausel bei erhobener Unzuständigkeitseinrede zu erfolgen hat, wurde jedoch erst in einem späteren Urteil, am 15. Oktober 2004,[12] geklärt: Der Kassationshof legte hierfür das Recht des Gerichts, an das der Einspruch gerichtet wurde (lex fori) und nicht das auf den Vertragsinhalt anwendbare Recht (lex contractus) fest.[13]

In einem weiteren Urteil aus dem Jahr 2006[14] entschied der Kassationsgerichtshof, dass die Parteien nicht auf das Schiedsverfahren zu verweisen sind, wenn der Vertrag ausländischem Recht unterliegt, gleichzeitig jedoch das belgische Recht festlegt, dass die Zuständigkeit der belgischen Gerichte nicht ausgeschlossen werden kann.[15] Dieses Urteil bestätigte der Kassationsgerichtshof am 14. Januar 2010, indem er entschied, dass das Gericht bei erhobener Unzuständigkeitseinrede wegen einer bestehenden Schiedsvereinbarung, die einem ausländischen Recht unterliegt, das Schiedsverfahren ausschließen muss, sofern die Streitigkeit aufgrund der einschlägigen Rechtsnormen der lex fori nicht der Zuständigkeit des nationalen Gerichts entzogen werden kann.[16]

Aus dieser Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofes entwickelte sich der sog. „Tandem“-Ansatz, wonach der zwingende Charakter des Alleinvertriebsrechts dazu führt, dass die Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit über die Beendigung eines Alleinvertriebsvertrags nur dann anerkannt werden kann, wenn die Schiedsrichter verpflichtet sind belgisches Recht,[17] oder einem diesem vergleichbares Recht, anzuwenden.

Im Jahr 2013 wurde das Schiedsverfahren in Belgien neu geregelt,[18] mit dem Ziel den Anwendungsbereich der Schiedsgerichtsbarkeit auszuweiten.[19] Im Zuge dieser Novellierung wurde der Art. 1676 § 1 belg. Prozessordnung dahingehend geändert, dass nicht mehr nur jene Streitigkeiten schiedsfähig sind, für die eine Vergleichsvereinbarung getroffen werden kann, sondern jede Streitigkeit mit vermögensrechtlichem Charakter sowie Streitigkeiten nichtvermögensrechtlicher Art, die einem Vergleich zugänglich sind.[20] Die allgemeine Ausnahme des Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung, wonach die Bestimmungen zur Schiedsgerichtsbarkeit des Art. 1676 § 1-3 belg. Prozessordnung nur zur Anwendung gelangen, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, blieb jedoch im Zuge der Novellierung unverändert.[21] Seit der Novellierung des Schiedsverfahrens wird in der belgischen Literatur teilweise vertreten, dass der bisherige „Tandem“-Ansatz bereits überholt und die Schiedsfähigkeit von Vertragshändlerrechtstreitigkeiten die logische und ausdrückliche Konsequenz dieser Novelle sei.[22]

Dieser Ansicht entsprechend gab das Handelsgericht Hennegau mit Urteil vom 21. Dezember 2016 einer Unzuständigkeitseinrede aufgrund einer bestehenden Schiedsklausel in einem Streit aus einem Alleinvertriebsvertrag statt. In seiner Begründung distanzierte es sich von der bisherigen Rechtsprechung des belgischen Kassationsgerichtshofes, da diese älter als die Novellierung des Art. § 1676 belg. Prozessordnung und daher nicht mehr einschlägig sei.[23] Die mögliche Anwendung von Art. X.39 WGB als Ausnahme im Sinne des Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung wurde jedoch nicht explizit erörtert.[24] Mit ebendieser Argumentation, wonach auch Konzessionsstreitigkeiten seit der Einführung des neuen Schiedsgerichtsgesetzes schiedsfähig seien, entscheid das Landgericht Hasselt 2017, dass es für die Entscheidung in dem Konzessionsstreit nicht zuständig sei und zudem nicht erkennen könne, auf welcher Rechtsgrundlage die Schiedsklausel ungültig sein könne.[25]

Im gleichen Jahr gab auch das Handelsgericht Antwerpen einer Unzuständigkeitseinrede wegen einer Schiedsklausel statt, da der Anspruch im Hinblick auf die Gesetzesänderungen dem Gericht zufolge durchaus schiedsfähig sei und man neben dem staatlichen Gericht auch alternativen Streitbeilegungsmöglichkeiten eine Change geben wolle.[26]

Von Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch das 2019 ergangene Urteil des Handelsgerichts Hennegau, das nicht nur feststellte, dass die Streitigkeit aus einem Alleinvertriebsvertrag eine Streitigkeit vermögensrechtlicher Natur und daher nach Art. 1676 § 1 belg. Prozessordnung schiedsfähig ist, sondern sich erstmals dazu äußerte, dass die Ausnahmeregelung des Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung der Schiedsfähigkeit von Vertragshändlerrechtstreitigkeiten, die von Art. X.39 WGB erfasst werden, nicht entgegensteht.[27]

Schließlich hat sich auch das Handelsgericht Leuven im Jahr 2020 mit Hinweis auf die Kontroverse über die Schiedsfähigkeit von Vertragshändlerrechtstreitigkeiten für die Schiedsgerichtsbarkeit entschieden und festgestellt, dass der „Tandem“-Ansatz nicht mehr zeitgemäß ist. Zudem argumentierte das Gericht, dass Art. X.39 WGB, der dem geschädigten Vertragshändler das Klagerecht vor einem belgischen Gericht einräumt, keinen ausdrücklichen Ausschluss der Schiedsgerichtsbarkeit vorsehe, weshalb Art. X.39 WGB keine gesetzliche Ausnahme der Schiedsgerichtsbarkeit im Sinne von Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung darstelle.[28]

Die seit 2016 ergangene Rechtsprechung zeigt, dass sich bei den Handelsgerichten eine schiedsgerichtsfreundliche Haltung entwickelt hat. Dass die Rechtsprechung über die Kontroverse der Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten über die Beendigung von belgisch-internationalen Alleinvertriebsverträgen seitdem jedoch nicht nur in Richtung Schiedsfähigkeit geht, zeigt das Urteil des Berufungsgerichtes Gent. Dieses erklärte sich im Jahr 2018 in einem Streit aus einem Alleinvertriebsvertrag, trotz einer zwischen den Parteien vereinbarten Schiedsklausel, für die Klage zuständig – dies zumindest für jenen Teil des Alleinvertriebsrechts, das sich auf belgisches Gebiet bezog.[29] Da das Urteil keine Äußerung bezüglich der Novellierung des Schiedsverfahrens in der belgischen Prozessordnung enthielt, blieb unklar, ob sich das Berufungsgericht Gent bewusst von der Trendwende der unteren Instanzen abwendete oder den vom Kassationsgerichtshof entwickelten „Tandem“-Ansatz nur „blind“ angewendet hat.[30]

 

III. Urteil des Kassationsgerichtshofs vom 7. April 2023

 

1. Sachverhalt

Im Jahr 2015 schlossen eine Gesellschaft mit Sitz in Österreich und eine Gesellschaft mit Sitz in Belgien einen unbefristeten Alleinvertriebsvertrag für das Vertragsgebiet Belgien ab, wobei sie die Geltung österreichischen Rechts vereinbarten. Zudem statuierte dieser Vertrag für jegliche Streitigkeiten aus diesem die Durchführung eines Schiedsverfahrens vor einem Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer (ICC) in Wien, Österreich.

Nachdem der Alleinvertriebsvertrag im Jahr 2018 von dem österreichischen Konzessionsgeber gekündigt wurde, machte der belgische Konzessionsinhaber vor dem Handelsgericht Antwerpen Ansprüche aus der Beendigung des Vertrages geltend. Von dem Konzessionsgeber wurde die Unzuständigkeit der belgischen Gerichtsbarkeit eingewandt. Das Handelsgericht Antwerpen erklärte die Klage für zulässig. Hiergegen legte der Konzessionsgeber Berufung ein.

Das Berufungsgericht hob das erstinstanzliche Urteil auf und erklärte das Handelsgericht Antwerpen für unzuständig. Es sprach zudem aus, dass Streitigkeiten über Ansprüche aus der Beendigung von belgisch-internationalen Alleinvertriebsverträgen grundsätzlich schiedsfähig sind. Hiergegen legte der Konzessionsinhaber Kassationsbeschwerde ein, mit der Begründung, dass das Berufungsurteil insbesondere gegen Art. X.39 WGB, Art. 1676 § 1 und § 4 belg. Prozessordnung verstoße.

Der Kassationsgerichtshof wies die Kassationsbeschwerde zurück und erklärte Streitigkeiten über Ansprüche aus der Beendigung von Alleinvertriebsverträgen als vermögensrechtliche Streitigkeiten für schiedsfähig.[31] Zudem dürfe ein belgisches Gericht im Anwendungsbereich der Rom-I-Verordnung die von den Parteien getroffene Rechtswahl zugunsten ausländischen Rechts ungeachtet von Art. X.39 WGB nicht außer Kraft setzen, da es sich bei den belgischen Regelungen zum Alleinvertriebsrecht nicht um zwingende Vorschriften (‚loi de police‘) i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung handelt.[32]

 

2. Argumentation des Berufungsgerichts Antwerpen, Urteil vom 10. März 2021

Das Berufungsgericht hob das erstinstanzliche Urteil auf und erklärte das Handelsgericht Antwerpen für unzuständig. In Anwendung des Artikels VI Abs. 2 lit. c des Europäischen Übereinkommens[33] kam das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass das angerufene Gericht einer Schiedsvereinbarung die Anerkennung versagen kann, wenn die Streitigkeit nach seinem Recht nicht schiedsfähig ist, folglich sei die Schiedsfähigkeit der Streitigkeit nach belgischem Recht zu beurteilen.[34] Bei einer Streitigkeit aus einer Allleinvertriebskonzession handele es sich um eine vermögensrechtliche Streitigkeit, die nach belgischem Recht gemäß Art. 1676 § 1 belg. Prozessordnung grundsätzlich schiedsfähig ist.[35] Zudem stellte das Berufungsgericht fest, dass die Ausnahmeregelungen des Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung, die die Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit ausschließen, restriktiv auszulegen seien. Infolgedessen stelle Art. X.39 WGB keine solche Ausnahmeregelung dar, da dieser die Schiedsfähigkeit nicht ausdrücklich ausschließt. Hierfür spreche auch, dass dem Art. 1676 der belgischen Prozessordnung aufgrund seiner späteren Novellierung Vorrang gegenüber dem Art. X.39 des WGB zukomme.[36]

 

3. Wesentliche Entscheidungsgründe des Kassationsgerichtshofs

a) Anwendbares Recht zur Bestimmung der Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit

In Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht Antwerpen wendet der Kassationsgerichtshof nicht das New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche,[37] sondern das Europäische Übereinkommen über die internationale Handelsgerichtsbarkeit[38] an. Infolgedessen kommt das Kassationsgericht ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit gemäß der lex fori des angerufenen Gerichts zu bestimmen ist.[39] Folglich sei das mit der Einrede der Unzuständigkeit befasste Gericht verpflichtet, das Schiedsverfahren auszuschließen, sofern die Streitigkeit nach dem Recht des angerufenen Gerichts, im vorliegenden Fall dem belgischem Recht, nicht schiedsfähig ist.[40] Nach belgischem Recht bestimmt sich die Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit gemäß Art. 1676 § 1 bis Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung. Demnach kann jede Streitigkeit mit vermögensrechtlichem Charakter Gegenstand eines Schiedsverfahrens sein, Art. 1676 § 1 belg. Prozessordnung, sofern keine spezialgesetzliche Regelung die Schiedsfähigkeit ausdrücklich ausschließt, Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung. In Bezug auf Streitigkeiten, die die Beendigung von Alleinvertriebsverträgen betreffen, bestätigt der Kassationsgerichtshof die Einschätzung des Berufungsgerichts, dass es sich hierbei um vermögensrechtliche Streitigkeiten i.S.d. Art. 1676 § 1 belg. Prozessordnung handelt, die grundsätzlich schiedsfähig sind.[41]

b) Anwendung des Art. X. 39 WGB?

Bezüglich der nunmehr entscheidenden Fragestellung, ob in solchen Fällen Art. X.39 WGB zur Anwendung gelangt und die Schiedsfähigkeit der Streitigkeit ausschließt beziehungsweise von der Anwendung belgischen Rechts abhängig macht, unterscheidet sich die Argumentation des Kassationsgerichts deutlich von der des Berufungsgerichts Antwerpen: Während das Berufungsgericht Antwerpen Art. X. 39 WGB aus Perspektive des belgischen Rechts beurteilt (Art. 1676 § 4 belg. Prozessordnung sei restriktiv auszulegen und daher liege eine Ausnahmevorschrift im Sinne dieses Artikels nur dann vor, wenn die Schiedsfähigkeit ausdrücklich ausgeschlossen wird, sodass es sich bei Art. X. 39 WGB nicht um eine solche Ausnamevorschrift handele), zieht der Kassationsgerichtshof hierfür das EU-Recht heran. Gemäß Art. X.39 WGB hat das belgische Gericht, vor dem der Konzessionär die ihm im Falle der einseitigen Beendigung einer unbefristeten Alleinvertriebskonzession zustehenden Ansprüche einklagt, ausschließlich belgisches Recht anzuwenden.[42] Im Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht[43] sei das anzuwendende Recht jedoch nach dieser Verordnung zu bestimmen, welche dem Grundsatz der Privatautonomie Rechnung trage.[44] Um diesem Grundsatz volle Geltung zu verschaffen, sei die gemäß Art. 3 Abs. 1 Rom-I-VO getroffene Rechtswahl der Parteien grundsätzlich zu respektieren, und lediglich bei dem Vorliegen von Eingriffsnormen i.S.d. Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 Rom-I-VO zu korrigieren.[45]

c) Beurteilung nach der Rom-I-VO

Da die Parteien im vorliegenden Fall eine wirksame Rechtswahl gemäß Art. 3 Abs. 1 Rom-I-VO zugunsten des österreichischen Rechts getroffen haben, das die Schiedsfähigkeit der Streitigkeit normiert, wäre eine Anwendung des Art. X.39 WGB demnach nur denkbar, sofern es sich bei diesem um eine Eingriffsnorm i.S.d. Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 Rom-I-VO handelt. Diese Beurteilung obliege dem nationalen Gericht, wobei es nach der Unamar-Rechtsprechung des EuGH den genauen Wortlaut der Vorschrift, die allgemeine Systematik sowie sämtliche Umstände, unter denen diese Vorschrift erlassen wurde, zu berücksichtigen habe.[46] Zudem habe es zu beachten, dass der Mechanismus des Vorrangs zwingender Vorschriften eine Ausnahme von den Grundsätzen der Willensfreiheit und der freien Rechtswahl darstellt, weshalb diese Ausnahme eng auszulegen sei.[47] Bezüglich der Artikel X.35 bis X.40 WGB im Zusammenhang mit der einseitigen Beendigung von unbefristeten Alleinvertriebskonzessionen kommt der Kassationshof unter Bezugnahme auf die Unamar-Rechtsprechung des EuGH zu dem Ergebnis, dass diese Vorschriften im Wesentlichen private Interessen schützen und daher keine Vorschriften des zwingenden Rechts im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO sind.[48]

Hieraus sowie aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht folge daher, dass das belgische Gericht im Anwendungsbereich der Rom-I-VO das von den Parteien gewählte Recht, ungeachtet der Bestimmungen des Art. X. 39 WGB, nicht außer Kraft setzen kann, um die belgischen Bestimmungen anzuwenden.

Im Ergebnis könne das belgische Gericht die Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit über die Beendigung einer Alleinvertriebskonzession, auf die die Rom-I-VO Anwendung findet, daher auch nicht davon abhängig machen, dass die Schiedsrichter die genannten belgischen Bestimmungen oder ein ausländisches Recht, das einen gleichwertigen Schutz bietet, anwenden werden.

 

IV. Fazit

In seinem Urteil legt der Kassationsgerichtshof fest, dass die Regelungen zum belgischen Alleinvertriebsrecht nicht als zwingende Vorschriften (‚loi de police‘) gemäß Art. 9 Abs. 1 Rom-I-VO zu qualifizieren sind, und dass daher Streitigkeiten über die Beendigung von Alleinvertriebskonzessionen im Anwendungsbereich der Rom-I-VO bedingungslos schiedsfähig sind. Im Ergebnis stellt das Urteil des Kassationsgerichtshofs für den Anwendungsbereich der Rom-I-Verordnung daher eine klare Absage an den bisher herrschenden ‚Tandem-Ansatz‘ dar, da es eindeutig feststellt, dass die Schiedsfähigkeit einer Streitigkeit über die Beendigung von Alleinvertriebsverträgen nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob der Schiedsrichter belgisches Recht oder ein diesem vergleichbares Recht anwendet. Begrüßenswert ist, dass der Kassationsgerichtshof hiermit eindeutig Stellung bezieht und die seit der Gesetzesnovellierung von Schiedsverfahren bestehende Rechtsunsicherheit beseitigt. Weiterhin offen bleibt jedoch die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn der Anwendungsbereich der Rom-I-Verordnung nicht eröffnet ist, etwa weil der Lizenzgeber außerhalb der Europäischen Union ansässig ist.

 

[1] Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom-I-Verordnung).

[2] Kassationsgerichtshof, 7.4.2023, C.21.0325.N.

[3] Vgl. Abraham/Vanderbeeken, Schiedsfähigkeit von Konzessionsstreitigkeiten: überarbeitet, R.A.B.G, 2020/11 Rn. 12.

[4] Art. X.35 bis. Art. X.40 des belgischen Wirtschaftsgesetzes (WGB).

[5] Art. 4 des Alleinvertriebsgesetzes vom 27.7.1961, welcher durch das Gesetz vom 2. April 2014 in das belgische Wirtschaftsgesetz (WGB) in Buch X. Art 39 WGB aufgenommen wurde.

[6] Art. 6 des Alleinvertriebsgesetzes vom 27.7.1961.

[7] Vgl. Christoph Kocks, Schiedsvereinbarungen in belgisch-internationalen Handelsvertreterverträgen, bfai (Bundesagentur für Außenwirtschaft), 2008, Cologne.

[8] K. Ongenae, „Schiedsfähigkeit von Konzessionsstreitigkeiten nach dem neuen Schiedsstellengesetz und dem SGB X: Wenn der Gesetzgeber auswärts ist, tanzt das Gericht auf dem Tisch?“, T.B.H. 2017, 1011 mit Hinweis auf G. Keutgen und G.-A. DAL, L’arbitrage en droit belge et international, T.I, Le droit belge, Brüssel, Bruylant, 2015, 144; I. Meussen, ‚The sales concession‘ in Bestendig Handboek Distributierecht, Mechelen, Kluwer, losbl., 2015, V.3-18-V.3-30).

[9] Marijn De Ruysscher, „New York Convention, 60 years serving arbitration”, NJW 2019, Nr. 410, 730-739, Rn. 20.

[10] Kassationsgerichtshof, 28.Juni 1979, J.T., 1979, S. 625, R.C.J.B., 1981, S. 332.

[11] Vgl. Hollander, Die Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten in Bezug auf die Beendigung von Alleinvertriebsverträgen vorbehaltlich des Gesetzes vom 27. Juli 1961: das Ende der Kontroverse, R.D.C.-T.B.H., 2005/5, 501; Vgl. Abraham/Vanderbeeken, a.a.O, R.A.B.G, 2020/11 Rn. 10.

[12] Kassationsgerichtshof, 15.10.2004, R.D.C.-T.B.H., 2005/5.

[13] Kassationsgerichtshof, 15.10.2004, R.D.C.-T.B.H., 2005/5; Vgl. Hollander, a.a.O, R.D.C.-T.B.H., 2005/5, S. 2.

[14] Van Hopplynus Instruments v. Coherent Inc. (Supreme Court, 16 Nov. 2006) TIJDSCHRIFT VOOR BELGISCH

HANDELSRECHT (2007) at p. 889.

[15] According to Born, “The non-arbitrability limits that exist under national law have evolved materially over

time, with historic skepticism about the arbitral process's ability to resolve particular categories of disputes

eroding substantially in recent decades” - G.B. Born, International Commercial Arbitration (Kluwer, 2009),

vol. I, at p. 775.

[16] Kassationsgerichtshof. 14.1.2010, R.D.C.-T.B.H., 2010/5.

[17] Fsm Kassationsgerichtshof. 14.1.2010, R.D.C.-T.B.H., 2010/5.

[18] Gesetz vom 24. Juni 2013 zur grundlegenden Änderung von Teil VI des Gerichtsgesetzbuches.

[19] Part.St. Chamber, 2012-13, Nr. 53-2743/003, 10-11.

[20] Vgl. Art. 1676 § 1 belgische Prozessordnung.

[21] Vgl. Abraham/Vanderbeeken, a.a.O., R.A.B.G., 2020/11 Rn. 21.

[22]  Vgl. J. Erauw zu Handelsgericht Antwerpen, afd. Hasselt, 17.7.2017, R.W., 2018-2019/27, 1074 unter Hinweis auf Hollander, Aktuelle Entwicklungen bei Gerichtskonflikten und Schiedsgerichtsbarkeit in Vertriebsverträgen, Bruylant, 2014, 119; J. Verbist, "Rechtsschutz beim Abschluss einer Schiedsvereinbarung" in M. Piers et al, Liber amicorum Johan Erauw, Antwerpen, Intersentia, 2014, S. 449, Nr. 41

[23] Handelsgericht Hennegau, 21.12.2016, R.D.C.-T.B.H., 2017/9, 1006.

[24] Vgl. K. Ongenae, „Schiedsfähigkeit von Vertragshändlerstreitigkeiten nach dem neuen Schiedsverfahrensrecht und Buch X des Wirtschaftsgesetzbuchs: Wenn der Gesetzgeber nicht zu Hause ist, tanzt das Gericht auf dem Tisch?“, T.B.H. 2017, 1012.

[25] Kh. Hasselt 13. Juli 2017, R.W. 2018-19, S. 1069.

[26] Handelsgericht Antwerpen, 17.7.2017, R.W., 2018-2019/27, 1068.

[27] Handelsgericht Hennegau, 28.3.2019, R.D.C.-T.B.H., 2019/3; vgl. Abraham/Vanderbeeken, a.a.O. R.A.B.G., 2020/11 Rn. 33.

[28] Handelsgericht Leuven, 19.5.2020-19, A/20/00034, vgl. Abraham/Vanderbeeken, a.a.O. R.A.B.G., 2020/11 Rn. 35 f.

[29] Berufungsgericht Gent, 31.10.2018, R.A.B.G., 2020/11.

[30] Vgl. Abraham/Vanderbeeken, a.a.O. R.A.B.G., 2020/11 Rn. 39 f.

 

[31] Kassationsgerichtshof, 7.04.2023, C.21.0325.N/2, S. 2.

[32] Kassationsgerichtshof, 7.04.2023, C.21.0325.N/2, S. 4 f.

[33] Europäisches Übereinkommen über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit vom 21. April 1961.

[34] Berufungsgericht Antwerpen, 10.3.2021, 2020/AR/136, S. 8 f. unter Bezugnahme auf: Kassationsgerichtshof, 14.01.2010-11, 1087.

[35] Berufungsgericht Antwerpen, 10.3.2021, 2020/AR/136, S. 9 f.

[36] Berufungsgericht Antwerpen, 10.3.2021, 2020/AR/136, S. 10 f.

[37] New Yorker Konvention 1958, Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (UN-Übereinkommen vom 10.6.1958).

[38] Europäisches Übereinkommen über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit vom 21. April 1961.

[39] Kassationsgerichtshof, 7.04.2023, C.21.0325.N/2, S. 2.

[40] Artikel VI Abs 2 lit. c des Europäischen Übereinkommens.

[41] Kassationsgerichtshof, 7.04.2023, C.21.0325.N/2, S. 2.

[42] Vgl. Art. X.39 belgisches Wirtschaftsgesetzbuch.

[43] Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom-I-Verordnung).

[44] Urteil vom 17 Oktober 2013, Unamar t. Navigation Maritime Bulgare, C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663, Rn. 49.

[45] Kassationsgerichtshof, 7.04.2023, C.21.0325.N/2, S. 3.

[46] Urteil vom 17 Oktober 2013, Unamar t. Navigation Maritime Bulgare, C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663, Rn. 50.

[47] Urteil vom 17 Oktober 2013, Unamar t. Navigation Maritime Bulgare, C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663, Rn. 49.

[48] Kassationsgerichtshof, 7.04.2023, C.21.0325.N/2, S. 4.

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